Wer bestimmt den Diskurs

Corona, eine Frage der Ethik?

Die Debatte um die Aufhebung der Coronamassnahmen für Immunisierte nimmt langsam Fahrt auf. Allerdings eine fatale Fahrt, die geeignet ist, das Thema frontal an die Wand zu setzen. Kluge und auch weniger kluge Köpfe ergehen sich in pauschalen Aussagen, die an Realität, Bedürfnissen und Notwendigkeiten vorbei gehen.

Wir kommen nicht weiter mit Statements wie "Diskriminierung nicht geimpfter", "jede Unterscheidung Geimpft/Ungeimpft ist Apartheid 2.0" oder "die Massnahmen gelten weiter für alle". Wir müssen einige Zeit damit leben, dass zunehmend mehr Menschen gegen eine Infektion gefeit sein werden. Und wir werden uns damit auseinandersetzen müssen, wann wem welche Lockerungen zuteil werden und wie das organisiert werden kann.

Hier ein paar Gedanken dazu.

1.
Die Gesundheitsämter sind selbst nicht in der Lage, die momentanen Herausforderungen selbst zu meistern. Weder personell, noch von der Infrastruktur her. Das ist bei der Nachverfolgung von Infektionsketten so. Das ist bei der Koordinierung der Impfungen so.
Da haben wir es mit einem kapitalem Versagen der Politik zu tun. Mit Ansage. Das öffentliche Gesundheitssystem wird seit Jahren zu Gunsten gewinnorientierter Unternehmen zurückgefahren. Das rächt sich heute beeindruckend.
Damit nicht alles vor die Hunde geht, sollen jetzt andere ran. Die Bundeswehr verfolgt Infektionsketten, in Clubs soll geimpft werden und Eventim soll die Terminvergabe organisieren. Dabei gefällt mir der Einsatz der Bundeswehr entschieden am wenigsten. Eventim versteht sich zumindest auf Terminvergabe und ob ich im Strom oder im Hinterhof einer Arztpraxis geimpft werde, das ist mir reichlich wumpe.

2.
Über kurz oder lang wird es eine relevante Menge Menschen geben, die entweder Corona durchgemacht hat oder geimpft sein wird. Und es wird lange Zeit eine größere Menge Menschen geben, die weiterhin nicht gegen eine Infektion geschützt sein wird. Das wird regional unterschiedlich sein, das wird auch von Altersgruppe zu Altersgruppe unterschiedlich sein.
Was nicht sein kann ist, dass der ganzen Gesellschaft durchgängig ein Lockdown verordnet wird, bis deutschlandweit eine sogenannte Herdenimmunität erreicht ist.

3.
Es mag dem einen oder der anderen verfrüht erscheinen, sich über die Lockerung oder Aufhebung der Coronamassnahmen für immunisierte Menschen Gedanken zu machen. Doch die Diskussion ist bereits in vollem Gange. In Altötting werden Impfkarten ausgestellt, Fluglinien schwadronieren über Flüge nur für Geimpfte und Eventim versucht nun ebenfalls sein Glück. Dabei finde ich ist es höchste Zeit, sich ernsthaft Gedanken zu machen und die Diskussion nicht irgendwelchen Interessengruppen zu überlassen.

4.
Die Dimension ist obendrein ein klein wenig größer, als die Frage, wer darf unter welchen Voraussetzungen auf ein Konzert oder in den Flieger. Da stellen sich auch Fragen, darf ich als Angestellter Kundenkontakt zu Kunden ohne Immunitätsnachweis verweigern. Darf der Arbeitgeber von seinen Beschäftigten einen Immunitätsnachweis einfordern. Müssen sich Immunisierte weiterhin Reisebeschränkungen - und damit meine ich auch und vor allem Besuche bei Freunden und Verwandten, weniger Geschäfts- und Vergnügungsreisen - und Quarantänemassnahmen unterwerfen? Kann ich mich im privaten Bereich mit beliebig vielen Immunisierten treffen oder muss ich mich unsinnigerweise weiterhin an die 1 Haushalt plus 1 Person halten? Oder werden Heimbewohner, die sich nicht mehr anstecken können, weiterhin von der Außenwelt abgeschirmt, weil sich Kinder und Enkel noch nicht haben impfen lassen können?
Und wie wird das dann zukünftig mit Grippe und Erkältung gehandhabt?

5.
Wir sind rasant und teils planlos von einem Lockdown zum nächsten, von einer Einschränkung zur nächsten getaumelt. Und das jetzt schon bald ein Jahr. Ist es da nicht mehr als höchste Zeit, sich über Sinn und Unsinn der Massnahmen Gedanken zu machen? Sich Gedanken über eine - wie auch immer geartete - neue Normalität zu machen. Ist es nicht mehr als höchste Zeit, diese Diskussion wieder in die Gesellschaft zurück zu holen und sie nicht abgedrehten Querdenkern oder interessengesteuerten Lobbyisten zu überlassen?

6.
Der Terminus "Privilegien für Geimpfte" ist eine bewusste oder unbewusste Umdrehung der Tatsachen. Grundrechte sind keine Privilegien. Grundrechte sind Grundrechte. Und Grundrechte sind der Normalzustand. Die besondere Situation der Pandemie bedingt es, diesen Normalzustand befristet einzuschränken. Damit wird die Rückkehr zu den Grundrechten nicht zu einem Privileg, sondern bleibt der einzig gangbare Weg für uns alle.

7.
Meine 50 Pfennig dazu.

8.
Wer wird wann geimpft?
Den gemeinschaftlichen Einkauf von Impfstoff durch die EU und die Organisation der Impfungen durch die Staaten zusammen mit der Priorisierung nach Gefährdung halte ich insgesamt für gut und richtig. Dass die EU den Einkauf offenbar vergeigt und die Staaten die Impfungen unterschiedlich schlecht auf die Reihe bekommen, das steht auf einem anderen Blatt. Alternativ alles privatwirtschaftlich laufen zu lassen... ich mag gar nicht daran denken.
Weil wir dessen ungeachtet weiterhin in einem kapitalistischen System leben: Wer kann wem verbieten, Geld auf den Tisch von Biontech, Moderna - oder wie sie alle heissen - zu legen und sich Impfdosen für die seinen zu sichern? Und wer mag in einem kapitalistischen System einem kapitalistischen Unternehmen verbieten, da zu verkaufen, wo der Flins fliesst?

9.
Dann wäre da noch der Blick auf das weltweite Geschehen. Während wir uns hierzulande mit Israel, Großbritannien oder den USA in Sachen Impfdosenreservierung und Impfgeschehen messen, macht das Vakzin um viele Länder und deren Bevölkerung einen großen Bogen. Weil da kein Flins fliesst. Weil es sich große Regionen - vorwiegend in Afrika, Asien und Südamerika - nicht leisten können, gegen die großen Industrienationen anzubieten. Aber das interessiert die Kleingeister hierzulande wenig.